Herr Eisermann, wir möchten Ihnen kurze Fragen stellen und hoffen auf kurze Antworten.
Hoffen ist erlaubt. Doch das Leben ist kompliziert. Es ist ein verbreiteter Aberglaube, kurze Fragen ließen sich immer kurz beantworten.
Sie wissen doch: Kurz ist gut. Weniger ist mehr.
Ja, dieses Mantra lese ich in jeder Vorlesungsevaluation, wohl zur Erlösung von intellektueller Redlichkeit. Kurz ist leider nicht immer gut, sondern manchmal nur zu kurz gedacht. Verstehen braucht Zeit. Wenn weniger mehr ist, dann ist mehr ja auch weniger? Wenn ich mehr erkläre, dann wird es vielleicht weniger kryptisch.
Da gehen die Meinungen auseinander. Also im Ernst: Können Sie sich kurz fassen?
Ehrlich gesagt, nein. Ich versuche es immer wieder, aber es misslingt in schöner Regelmäßigkeit.
Übrigens war das eben Ihre erste Frage, und ich finde meine Antwort recht kurz.
Sprechen wir lieber über Mathematik. Herr Eisermann, was begeistert Sie an der Mathematik?
Mathematik ist ein wunderbares Werkzeug und auch Werkstück!
"Alles Leben ist Problemlösen.", so resümierte es der Philosoph Karl Popper. Erfahrungsgemäß lohnt sich für viele Probleme eine gewisse Systematik: Das Problemlösen gelingt daher mit Mathematik wesentlich besser als ohne, deshalb dient sie uns Menschen seit jeher als intellektuelles Grundwerkzeug.
Mathematische Arbeit ist dabei extrem vielfältig, sie ist sowohl künstlerisch-kreativ (wenn wir neue Gegenstände konstruieren oder bessere Methoden entwickeln) als auch handwerklich-exakt (indem wir sorgfältig argumentieren, dazu gehört auch konkret rechnen). Wenn das gelingt, ist Mathematik nicht nur nützlich sondern auch schön, ja, das Gelingen einer - mathematischen - Arbeit macht glücklich. Das ist eine menschliche Grunderfahrung wie bei jeder anstrengenden aber lohnenden Tätigkeit, sei es intellektuell-akademisch oder körperlich-sportlich.
Mathematik hat einige Besonderheiten, in der Theorie ist sie eine Geisteswissenschaft, in den Anwendungen eine Naturwissenschaft. Sie ist zugleich abstrakte Theorie und konkrete Anwendung. Sie erklärt und quantifiziert Zusammenhänge, das ist ihr Nutzen. Dank Abstraktion ist sie universell anwendbar, das ist ihre Stärke.
Mancher, auch hier an der Universität, hält Mathematik rundweg für unnützen Quatsch, Grundlagenforschung für Zeitverschwendung und Abstraktion für ein Schimpfwort; das sind weniger Aussagen über die Wissenschaft als über die eigene Ignoranz.
Jeder, der Mathematik anwendet oder entwickelt, weiß ihre Effizienz zu schätzen, von der Algebra bis zur Numerik, von der Geometrie bis zur Stochastik, von der Analysis bis zur mathematischen Physik und den Wirtschaftwissenschaften, usw. Wenn es an der Mathematik hapert, dann nicht an zu viel sondern an zu wenig.
Wie sind Sie Mathematiker geworden?
In der Schule begeisterte ich mich früh für Mathematik, später auch für Physik. Ich hatte das Glück, diese Interessen entwickeln und vertiefen zu können, zunächst durch guten Schulunterricht, insbesondere zwei fabelhafte Leistungskurse, anschließend durch die Möglichkeit, studieren zu dürfen, was mir von Anfang an viel Freude bereitete. Ich halte das nach wie vor für ein glückliches Privileg und keinesfalls für selbstverständlich. Dreißig Jahre früher wäre ich vielleicht ein guter Werkzeugschlosser geworden, wer weiß. Studiert habe ich in Oldenburg und Bonn, mit Studienaufenthalten in Edinburgh und Strasbourg. Das war vor 25 Jahren; man ließ uns damals, und auch ich mir, genug Zeit fürs Studium. Anfang 2000 habe ich an der Universität Bonn in Mathematik promoviert.
Mehr noch als vor der Promotion drängte danach die Frage, ob ich Geld verdienen will oder muss oder mich in Forschung und Lehre versuche. Ich habe mich zunächst für letzteres entschieden, auch in der Annahme, eine Fehlentscheidung noch erkennen und rechtzeitig korrigieren zu können. Allerdings war klar, dass das deutsche Hochschulsystem etwa zehn Jahre lang keine realistische, halbwegs planbare Perspektive bietet, und danach wäre es für eine Korrektur zu spät. Ich denke heute wie damals: Wenn man jung ist, erträgt man vielleicht zwei oder drei Jahre Prekariat, aber nicht zehn!
Ich war jung und abenteuerlustig und ging für zwei Jahre als PostDoc nach Lyon an die École Normale Supérieure. Meine erste feste Stelle bekam ich 2002 in Grenoble am Institut Fourier als Maître de Conférences, eine Art Assistenzprofessur, für die es leider keine deutsche Entsprechung gibt; man verdient wenig, hat aber eine Festanstellung und gute Bedingungen für die Forschung. Seit 2009 arbeite ich in Stuttgart als Professor für Topologie.
Im Rückblick wirkt eine solche Laufbahn vielleicht geradlinig, das liegt an der Erzählperspektive. Ein akademischer Werdegang besteht neben eigener Arbeit auch aus äußeren Faktoren und vielen Zufällen. In entscheidenden Momenten eröffneten sich Möglichkeiten, einige konnte ich nutzen, die ungenutzten bleiben unbesungen. Nachträglich kann ich Punkte verbinden und ein Muster interpretieren (nach biblischen Maßstäben etwa sieben Jahre Grenoble und sieben Jahre Stuttgart), aber im voraus planen konnte ich das nicht. Das gilt für viele Karrieren, besonders aber für akademische.
Der Soziologe Max Weber schrieb 1919 hierzu in "Wissenschaft als Beruf": "Gewiß nicht nur der Zufall herrscht, aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem Grade. Ich kenne kaum eine Laufbahn auf Erden, wo er eine solche Rolle spielt. Ich darf das um so mehr sagen, als ich persönlich es einigen absoluten Zufälligkeiten zu verdanken habe, daß ich seinerzeit in sehr jungen Jahren in eine ordentliche Professur eines Faches berufen wurde, in welchem damals Altersgenossen unzweifelhaft mehr als ich geleistet hatten. Und ich bilde mir allerdings ein, auf Grund dieser Erfahrung ein geschärftes Auge für das unverdiente Schicksal der vielen zu haben, bei denen der Zufall gerade umgekehrt gespielt hat und noch spielt, und die trotz aller Tüchtigkeit innerhalb dieses Ausleseapparates nicht an die Stelle gelangen, die ihnen gebühren würde."
Stanislaw Ulam berichtete 1957 im Nachruf auf John von Neumann: "I remember Johnny telling me that even though the number of existing and prospective vacancies in German universities was extremely small,
most of the two or three score Dozents counted on a professorship in the near future." In Deutschland haben sich seither nur die Stellenbezeichnungen geändert, aber das Grundproblem des Prekariats bleibt bestehen.
Womit beschäftigen Sie sich in Forschung und Lehre?
In der Forschung befasse ich mich mit niedrigdimensionalen Mannigfaltigkeiten und insbesondere der Knotentheorie. Es geht aus topologischer und geometrischer Sicht zum Beispiel darum, dreidimensionale Räume zu verstehen. (Was besagt die Poincaré-Vermutung? www.igt.uni-stuttgart.de/eiserm/popularisation/Poincare-Vermutung)
In der Lehre kümmere ich mich seit 2009 um die Topologie in unseren Bachelor- und Masterstudiengängen, ebenso freue ich mich über die in der Mathematik übliche Abwechslung durch andere (Grund-)Vorlesungen, dazu gehört in Stuttgart insbesondere die Höhere Mathematik für Ingenieure. Als Fachbereich Mathematik leisten wir ja die mathematische Ausbildung in fast allen naturwissenschaftlich-technischen Studiengängen und stemmen damit eine enorme Exportleistung für nahezu alle Fakultäten.
Auch Höhere Mathematik für Ingenieure kann Freude bereiten?
Ja. Ich halte Neugier für etwas wunderbares. Wenn man ein Thema ernst nimmt und genauer anschaut, entdeckt man (nicht immer aber meist) viele schlaue Fragen und clevere Antworten. Es ist eine schöne Herausforderung, eine Vorlesung gut aufzubauen, Wissen zu vermitteln und Können einzuüben.
Engagierte Lehre ist fürchterlich anstrengend aber auch lohnend, diese Dialektik habe ich oben schon erwähnt. Das ist meine persönliche Überzeugung, auch die vieler Kollegen, leider aber nicht institutionalisiert: Wer sich in der Lehre engagiert, tut dies nicht wegen sondern entgegen universitärer Rahmenbedingungen. Erfolg in der Lehre ist sehr schwer zu messen, deshalb wird schon die Frage meist gemieden. Es ist leichter, Publikationen zu zählen, aber selbst die sind mühsam zu objektivieren: Wer hat noch die Zeit, den Inhalt zu verstehen, zu bewerten und einzuordnen? Am leichtesten ist es, die eingeworbenen Drittmittel zu addieren, das ist eine Summe in Euro, vermeintlich objektiv, die versteht jeder.
Für die Wissenschaft ist das eine fatale Verdrehung: Primäre Ziele werden unwichtig, sekundäre Merkmale werden wichtig. Richard Feynman beschrieb 1974 die Degenerierung von Wissenschaft zu Pseudowissenschaft als Cargo Cult Science; das überträgt sich auch auf die Lehre.
Engagement in der Lehre wird lauthals gefordert aber nicht nachhaltig gefördert, meist nicht einmal wahrgenommen, Sanktionen werden angedroht aber Investition nicht belohnt. Weiterhin ist Engagement in der Lehre bestenfalls ein Hobby, schlimmstenfalls ein Karierregrab.
Das ist kein schönes Schlusswort. Versuchen wir ein positives Ende: Was möchten Sie den jungen Menschen sagen?
Bleiben Sie neugierig! und unabhängig! und (selbst)kritisch!
Kurz geht doch. Herr Eisermann, wir danken für dieses Selbstgespräch
Immer wieder gerne.
Prof. Dr. Michael Eisermann
Abteilung für Geometrie und Topologie
Institut für Geometrie und Topologie